Leistungsgesellschaft wird zur Erwartungsgesellschaft

Eine Schweizer Flagge an einem Hochhaus
Die kleine Schweiz muss sich auf die neue Welt anpassen. (Bild: Fjedj / pixabay)

Aussenminister Ignazio Cassis hat seine Sicht auf die Dinge der Welt dargelegt. Symptombekämpfung und Pflästerli-Politik reichten nicht mehr.

In der Medizin sei es wie in der Politik, erklärte der Arzt und Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis am diesjährigen Wirtschaftspodium.

«Solange es nicht so schlimm ist, können wir uns um die Symptombekämpfung kümmern», erklärte der FDP-Bundesrat.

Auf Zeitenwenden reagieren

Die Schweiz diskutiere die Spesenregelung und die Verfahrensdetails des Streitbeilegungsmechanismus mit der EU oder streite darüber, ob nun 0,5 Prozent mehr Mehrwertsteuer oder 0,8 Prozent mehr Lohnabzüge besser seien, um das Rentenloch zu finanzieren, kritisierte Cassis.

«Wir müssen uns bewusst sein, dass sie nur Symptome grösserer Krankheiten sind», hob der Mediziner aber hervor und benannte die Krankheiten auch gleich:

Es seien die Welt, die sich grundlegend geändert habe. Es seien Zeitenwenden, auf die es zu reagieren gelte. Und es sei der Staat, der sich den äusseren Umständen anzupassen habe.

Lebensader der Schweiz bedroht

So verändern aufkommende Mächte das bestehende Gleichgewicht, indem sie es ständig herausforderten. Traditionelle Allianzen gerieten unter Druck. Die aktuelle geopolitische Landschaft zeichne ein Bild geprägt von aussergewöhnlicher Unsicherheit und grösstmöglicher Komplexität, erklärte der Aussenminister weiter.

Parallel dazu führe der zunehmend protektionistische Kurs vieler Länder zu einer Erosion der multilateralen Handelssysteme, die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut wurden.

Diese Tendenz zur «America/China/India/Europe-First»-Politik bedrohe die offene und vernetzte Wirtschaftsstruktur – also eine Lebensader der Schweiz.

«Wir verdanken den Wohlstand der Schweiz wesentlich der Offenheit gegenüber dem internationalen Handel und der Vernetzung mit der Welt», führte Cassis aus.

Halbe Menschheit in Autokratien

Die europäische Sicherheitsarchitektur liege allerdings in Trümmern, die OSZE sei handlungsunfähig. Gleichzeitig gewännen neue Bedrohungen, wie Cyberangriffe und hybride Kriegsführung, an Bedeutung.

Gerade noch 13 Prozent der Weltbevölkerung lebten in liberalen Demokratien, verdeutlichte der Politiker. Eine knappe Mehrheit aller Menschen lebe hingegen in autokratischen Systemen.

Grösste Armee Europas

Dies alles zwinge die Staaten zum Handeln.

Einige täten dies sogar in atemberaubendem Tempo, wie das Land Schweden, das sich nach 200 Jahren Blockfreiheit der Nato angeschlossen habe und seine Rüstungsindustrie sowie die Verteidigungsausgaben hochfahre.

Dazu spare Schweden bei der Entwicklungshilfe und richte seine Aussenpolitik konsequent auf seine wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen aus.

Polen gab im vergangenen Jahr fast 4 Prozent des Bruttoinlandprodukts BIP für die Armee aus und wolle die grösste Armee Europas aufbauen.

Verschuldung als Lösung

Die Friedensdividende haben die Sozialsysteme der Schweiz ausgebaut, Besitzstände geschaffen und Erwartungen geschürt, statt produktive Investitionen zu tätigen, mahnte Cassis weiter.

Die Leistungsgesellschaft Schweiz werde zu einer Erwartungsgesellschaft. Diesen Trend umzukehren, sei aber mit schmerzhaften Massnahmen und grossen Widerstände in der Bevölkerung verbunden, hiess es.

Die Lösung vieler Länder sei da Verschuldung – doch dies sei der demokratische Weg des geringsten Widerstandes.

In den vergangenen 20 Jahren haben sich die weltweiten Staatsschulden verfünffacht. Allein die Zinszahlungen aller Staaten haben 2022 den Rekordwert von 1380 Milliarden Dollar erreicht, veranschaulicht der Schweizer Aussenminister die Misere.

Nur dank der Schuldenbremse stünde die Schweiz deutlich besser da.

Prioritäten bei Mitteln setzen

Doch innenpolitisch sei die Schweiz auch mit einer Zeitenwende konfrontiert. Sichtbar wurde dies beispielsweise am 3. März mit der Initiative zur 13. AHV-Rente. Zum ersten Mal habe die Bevölkerung sich selbst ohne Gegenfinanzierung mehr Geld zugesprochen, erklärte der Tessiner das Problem.

Zudem schände das Interesse vieler Unternehmen in die Schweizer Politik, weil die Absatzmärkte ohnehin im Ausland seien. Doch gerieten sie in Schwierigkeiten, deklarierten sie sich als systemrelevant und fordertet industriepolitische Massnahmen.

Die Kernaufgabe der Politik, knappe Mittel zu verteilen, sei kaum ein Problem, solange sich Bundeskasse wie von Zauberhand selbst fülle, beschrieb Cassis die Situation.

Diese Zeiten seien aber vorbei. Heutzutage gehe es darum, Prioritäten zu setzen und schwierige Entscheide zu fällen.

Dosierung beachten

Die Bürgerinnen und Bürger hätten in der Vergangenheit im direktdemokratischen System gezeigt, dass sie ihrer Verantwortung gewachsen seien. Nun habe aber das kurzfristige Denken – heute Mainstream – eingesetzt und dies sei nicht verantwortungsvoll. 

«Zur Behandlung unserer Krankheiten müssen wir uns als Gesellschaft, Wirtschaft und Politik einerseits internationalen Gegebenheiten strategisch und taktisch anpassen und andererseits typisch schweizerischen Eigenschaften Sorge tragen und sie beibehalten», hob Aussenminister Cassis als Fazit hervor.

Wie das gehen soll, weiss der Arzt aber auch nicht.

Es komme bei allen Dingen einzig auf die Dosis an, dass sie nicht zu einem Gift werden, gab der Mediziner allerdings der Schweiz das Paracelsus-Zitat mit auf den Weg.

18.04.2024/kut.

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