Vor den Küsten Europas parkieren Dutzende Tanker mit verflüssigtem Erdgas. Dies verwundert, denn überall herrscht Angebotsmangel. Doch eine Erklärung klingt logisch.
Vor der Küste Spaniens sind mehrere Dutzend Tanker mit verflüssigtem Erdgas (LNG) gesichtet worden. Dies meldeten zahlreiche Medien unter Berufung auf Beobachter und Analytiker. Über Trigger-Apps, Radar-Aufzeichnungen und Ortungssysteme wird die Ansammlung der Schiffe zudem laut «Reuters» bestätigt.
Auch vor Grossbritannien und im Mittelmeerraum seien ähnliche «Staus» von solchen LNG-Transportschiffen zu beobachten.
Angebot trotz Mangels
Die Menge an aktuell verschifftem Flüssiggas ist mit rund 2,5 Millionen Tonnen auf einem Allzeithoch, geht ausserdem aus Angaben des Fachportals «oilprice.com» zu der Lage hervor.
Die Situation ist paradox: In Europa herrscht vielerorts eigentlich Mangel an Gas und die Preise schnellen in die Höhe. Doch offenbar gibt es Flüssiggas in Hülle und Fülle.
Spanien winkt ab
Als Ursache für die ungewöhnliche Situation wird zunächst die knappe Kapazität bei der Rück-Umwandlung des Gases vom flüssigen in den gasförmigen Zustand vermutet. Doch dies konnten die spanischen Behörden entkräften, weil die Slots für solche Umwandlungen lange im Voraus gebucht werden müssten.
Zudem bestünden derzeit keine Anfragen für Not-Situationen zur Entladung von weiteren Tankern, hiess es vom zuständigen LNG-Umwandler enagás.
Auch seien die Gas-Speicher in Spanien mit rund 93 Prozent bereits sehr gut gefüllt, weshalb kaum ein Zusatzbedarf an weiteren LNG-Lieferungen gegeben sei.
Verteilung als Problem
Knappe Kapazitäten bei der Rückumwandlung von LNG gibt es allenfalls in Deutschland. Daher werden dort unter Hochdruck zwei schwimmende Plattformen für diesen Zweck eingerichtet.
Doch was könnten die «Staus» vor den Küsten Spaniens und Grossbritanniens also für Ursachen haben? Von Spanien kann zum einen kein Gas in andere europäische Länder transportiert werden, weil keine entsprechende Pipeline nach Frankreich, Deutschland oder nach Nordeuropa besteht. Eine solche ist erst in Planung.
Preisniveau im Blick
Vielmehr machen Finanzanalysten neben den knappen Kapazitäten an Orten hoher Nachfrage einen völlig anderen Grund für die langen Schlangen bei den Tankern aus. Während sich das Gas in den Tankern befindet, ist es nämlich in keinem Storage oder in keiner Pipeline verfügbar.
Der Markt könne daher auch nicht über diese Menge an Gas verfügen, hiess es. Das Erdgas existiert so praktisch nicht. Und derzeit liegen die Preise für spätere Erdgaslieferungen in Europa rund zwei Dollar pro mmBtu (Millionen British Thermal units) höher als für sofortige Lieferungen.
Dies könnte Händler dazu bewogen haben, ihre Frachten weiterhin auf See zu halten und mit den Warteschlangen auf höhere Preise im November und Dezember zu hoffen.
Weitere Ladungen im Anmarsch
Gleichzeitig sind aber noch Dutzende LNG-Tanker von den USA nach Europa unterwegs. Im September verliessen gemäss Statistiken 87 Ladungen die US-Terminals mit einem Volumen von rund 6,25 Millionen Tonnen an Erdgas. Rund 70 Prozent davon sind auf dem Weg nach Europa.
Falls all die Händler dieser Frachten auch auf höhere Preise spekulieren, könnte es zu guter Letzt womöglich ein Überangebot geben und im Winter das Preisniveau – auch für die Schweiz – überraschend sinken.
19.10.2022/kut.