Gewerbeverband verliert die Orientierung

Fabio Regazzi ist seit 2020 Präsident des Schweizerischen Gewerbeverbandes
Der Tessiner Ständerat Fabio Regazzi ist Präsident des Schweizerischen Gewerbeverbandes. (Bild: PD)

Der Schweizerische Gewerbeverband verstrickt sich in Widersprüche. Aktuelle Beispiele zeigen, was für ein Chaos in dieser Organisation herrscht.

Der Schweizerische Gewerbeverband sgv, die Dachorganisation für rund 600.000 Schweizer KMU, gibt sich gerne liberal.

Hauptanliegen seien optimale wirtschaftliche und poli­ti­sche Rahmenbedingungen sowie ein unter­nehmens­freundliches Umfeld, wie der Verband auf seiner Webseite für sich selbst wirbt.

Freiheit für Private

Zu diesen Interessen gehört, dass die Bürokratie nicht überhandnimmt und auch die Steuern niedrig bleiben. Ausserdem bekennt sich die Organisation zu einer freien und offenen Wirtschaft sowie zum uneingeschränkten Freihandel.

Die Dachorganisation der KMU befürwortet sogar die unilaterale Abschaffung von Einfuhrzöllen und setzt auf die Freiheit der Privaten.

Befürworten der Steuerausweitung

Doch das war es dann auch schon. Blickt man nämlich in die aktuelle Stellungnahme zur höheren Besteuerung beim Einkaufen im Ausland, schmeisst der Gewerbeverband all solch schöne Prinzipien über den Haufen.

Der Dachverband stimmt der Änderung einer Verordnung zu, mit der die Schweiz das Shoppen jenseits der Landesgrenze unattraktiver machen will.

Von der Freiheit der Privaten, die shoppen sollen, wo sie wollen, fehlt also jegliche Spur.

Über 20 Jahre lang akzeptiert

«Der sgv lehnt aber gruppenspezifische Förderungen und Ungleichbehandlungen ab», hiess es zur Begründung in dem Brief mit Schreibfehlern von Anfang März 2024 an das Eidgenössische Finanzdepartement EFD, der nunmehr auf der sgv-Webseite aufgeschaltet ist.

Die Befreiung der Mehrwertsteuer bei Einfuhr führe zu einer unbegründeten und vom Mehrwertsteuersystem nicht intendierten Ungleichbehandlung der Steuerzahler, erklärte der sgv plötzlich.

Das System gibt es aber seit über 20 Jahren.

Mechanismus zum Ausgleich fehlt

Der Gewerbeverband setzt sogar noch eins obendrauf. Die Steuerbefreiung sollte nicht nur von 300 auf 150 Franken, sondern sogar auf 50 Franken gesenkt werden, damit die Ungleichbehandlung weiter sinke.

Wer sich für weniger Bürokratie und weniger Steuern einsetzt, dürfte Mühe damit haben, mehr Steuern für die eigene Bevölkerung zu fordern.

Und wer denkt, die Hochpreisinsel Schweiz verschwinde, indem man Hürden für die Menschen schafft und das Einkaufen jenseits der Landesgrenzen unattraktiver macht, liegt sicher gleich nochmal daneben.

Günstigeres Einkaufen im Ausland hält den inländischen Detailhandel doch eigentlich fit, weil er ständig für ein attraktives Angebot sorgen muss.

Viele Lücken im System

Der Dachverband der 600.000 KMU hätte ja auch fordern können, die Mehrwertsteuer auf Einkäufe im Inland bis 300 Franken abzuschaffen, um die Gleichbehandlung zu erreichen.

Doch auf solch eine Idee ist der sgv nicht gekommen, obwohl es sogar auf Schweizer Gebiet zahlreiche Ungerechtigkeiten beim Eintreiben der Mehrwertsteuer gibt, wie muula.ch unlängst berichtete.

Nur zum Eigennutzen

Der sgv kämpft aber schon seit einiger Zeit mit fadenscheinigen Argumenten gegen den Einkaufstourismus. Die Menschen, die jenseits der Schweiz ihre Einkäufe erledigten, würden zum Beispiel die Umwelt viel mehr belasten, lautet ein Vorwurf.

Doch derselbe Dachverband findet es gut, wenn Touristen aus China oder aus Deutschland die Umwelt beschmutzen und ihre Ferien in der Schweiz verbringen und dabei viel Geld in der Schweizer Hotellerie und Gastronomie lassen, statt es in Peking oder im Schwarzwald auszugeben.

Gleichzeitig findet es der Verband sicher nicht gut, wenn irgendein Land neue Hürden für die Einfuhr Schweizer Waren und Dienstleistungen aufbaut. Genauso müsste sich der Verband auch für den Freihandel in der Schweiz einsetzen.

Bundesrat schafft Klarheit

Doch die Schweizer Detailhändler haben während der Coronavirus-Pandemie gemerkt, wie schön es sein kann, wenn die Schweizer Kundschaft keine Alternativen zum Einkaufen hat, weil die Landesgrenzen aufgrund der Corona-Massnahmen teilweise komplett geschlossen waren. Ist dies fair? Wohl kaum.

Aus einem Bericht des Bundesrates zur Frankenüberbewertung geht allerdings klar hervor, dass die Wertfreigrenze eine verwaltungsökonomische Massnahme ist, die aus Gründen der Erhebungswirtschaftlichkeit eingeführt worden war.

Zur Vereinfachung der Zollabfertigung war ab dem Jahr 2002 die allgemeine Wertfreigrenze von 100 Franken und die besondere Wertfreigrenze von 200 Franken zusammengerechnet worden.

Logische Güterabwägung

«Die Wertfreigrenze wurde nicht geschaffen, um Reisenden oder Bewohnerinnen und Bewohnern grenznaher Gebiete den steuerfreien Konsum zu ermöglichen, sondern hauptsächlich, um den administrativen Aufwand beim Zollveranlagungsverfahrens im Reiseverkehr zu verringern», steht wörtlich in dem Dokument.

Sie sei eine Güterabwägung zwischen Wettbewerbsneutralität versus Erhebungswirtschaftlichkeit.

Eintreiben von Minibeträgen

Mit den von sgv gutgeheissenen administrativen Mehraufwänden dürfte langfristig auch die Steuerlast für die hiesigen Unternehmen steigen, weil der Schweizer Staat mehr Zollbeamte braucht.

Selbst wenn eine Zollanmeldung mittlerweile administrativ günstiger vorgenommen werden kann, spricht allein das Mengengerüst des täglichen Reiseverkehrs eine deutliche Sprache für mehr Bürokratie. Ausserdem hätte man die Digitalisierung als Argumentation verwenden und dies mit Zahlen belegen müssen.

Und die Mehrwertsteuerschuld auf einen Einkauf von Lebensmitteln von 150 Franken aus dem Ausland liegt bei 3.90 Franken. Nimmt die Politik die Anregung des sgv zu einer gesenkten Freigrenze von 50 Franken auf, läge der Steuerbetrag nur bei 1.30 Franken je Person und Tag.

Viel Spass in der Eidgenössischen Zollverwaltung für die Administration solcher Minibeträge.

Komplizierte Abwicklung

Freie Schweizer Bürger oder Ausländer wollen solche Steuerbeträge sicher auch bar bezahlen. Doch auch dies kostet den Staat wieder Geld.

Wenn sich nun an Schweizer Grenzen lange Schlangen zur Verzollung von Kleineinkäufen bilden und die Eidgenössische Zollverwaltung den Mitarbeiterbestand vergrössern muss, um die Ministeuern einzutreiben, ist der sgv sicher wieder der Erste, der sich über die ausufernde Bürokratie und das Schweizer Beamtentum aufregt.

Insofern hat der Gewerbeverband die Orientierung verloren, verstrickt sich in Widersprüche und schaut nur auf die Partikularinteressen eines Teils seiner Klientel, den Detailhändlern.

Unersetzbarer Vizedirektor

Doch das ist nicht das einzige Problem, was bei der vom Tessiner Ständerat Fabio Regazzi (Mitte) geführten Organisation eklatante Mängel zum Vorschein bringt.

Das Schreiben an die EFD wurde auch von Henrique Schneider unterzeichnet, der beim sgv wegen einer Plagiatsaffäre in Ungnade gefallen war und trotz der Wahl nicht Direktor des Gewerbeverbandes wurde, wie auch muula.ch berichtete.

Schneider war zwar nicht geeignet, Direktor zu werden, doch agierte anschliessend noch monatelang weiter als Vizedirektor, bis man sich abrupt von ihm trennte.

Doch im Mandatsverhältnis darf er nun sogar für den Dachverband immer noch agieren. Schneider ist für den sgv also untragbar, aber eben unersetzlich. Risikomanagement sieht anders aus.

Die Befürwortung der Steuer auf kleine Einkäufe im Ausland und der unverzichtbare Vizedirektor sind zwei Beispiele, die zeigen, was der sgv doch für ein Chaos-Laden ist.

08.03.2024/kut.

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