Die Schweiz entwickelte sich im Jahr 2022 quasi zum Abhörstaat. Aus der Fichenaffäre & Co. scheint das Land wohl nicht viel gelernt zu haben.
Versucht eine Schweizer Behörde wichtige Entwicklungen vor dem Volk zu verbergen? Diesen Eindruck kann man gewinnen, wenn man den Jahresbericht ÜPF 2022 als Beispiel heranzieht.
Diesen Rapport zu den Fernmeldeüberwachungen bei Swisscom, Sunrise, Salt & Co. publizierte das zuständige Amt, das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement EJPD mit dem Dienst der Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs ÜPF, am vergangenen Freitagnachmittag.
Keine Vorjahreszahlen
Das ist also nicht nur ein Zeitpunkt, der von Medien generell wenig beachtet wird, sondern liegt sogar noch vor dem verlängerten Wochenende mit dem Nationalfeiertag, wo Redaktionen besonders spärlicher besetzt sind.
In dem Jahresbericht sind dann nicht einmal die Veränderungsraten der Fernmeldeüberwachungen zum Vorjahr angegeben – die muss man sich schon selbst zusammensuchen, wobei der Jahresbericht 2021 innerhalb nützlicher Frist nicht auffindbar ist.
Es fehlen aber auch jegliche Aussagen darüber, wie effektiv die ganzen Massnahmen sind.
Altes Interview
Doch das sind nicht die einzigen Auffälligkeiten.
Es gibt im Rapport 2022 zudem ein Selbstinterview mit Jürg Bühler, dem stellvertretenden Direktor des Nachrichtendienstes des Bundes (NDB), das allerdings schon im Dezember 2021 (!) geführt wurde und wichtige Entwicklungen, wie den Ausbruch des Ukraine-Krieges, ausklammert.
Warum dieses Gespräch Ende Juli 2023, also über anderthalb Jahre später, erscheint, erfährt man genauso wenig, wie den Umstand, wer die Behörde eigentlich führt.
In den Einleitungsworten von René Koch, dem Leiter Dienst ÜPF, steht «bis Mai 2023» und lässt die Leser dann im Juli 2023 ratlos zurück.
Ungenaue Diagramme
Macht man sich die Mühe und berechnet aus den Statistiken von der Webseite die Abweichungen zum Vorjahr, sieht man aber, dass die Anzahl der Fernmeldeüberwachungen 2022 gegenüber 2021 um fast 30 Prozent auf 10.253 Fälle zugelegt hat.
Besonders betroffen sind die Kantone Zürich (1600 Fälle), Genf (1400 Fälle) und Basel-Landschaft (zirka 1100 Fälle).
Viele Aufträge kommen aber mit rund 1000 Gesuchen auch von der Bundesanwaltschaft, wie aus dem jüngsten EJPD-Bericht zum Dienst der Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs ÜPF hervorgeht.
Die genauen Zahlen kann man aber in den Balkendiagrammen des Jahresberichts nicht ablesen.
Drei Massnahmen in Echtzeit jeden Tag
Die fünf Einzelmassnahmen, die dieser Gesamtzahl von 10.253 zugrundeliegen, muss sich das Volk selbst zusammensuchen. Die Schweizer Behörde versucht in ihrem Jahresbericht offenbar alles, die genauen Entwicklungen zu verschleiern.
So ergab aber die Analyse von muula.ch, dass die Anzahl der in Echtzeit durchgeführten Schnüffelmassnahmen gegenüber dem Vorjahr um 15 Prozent auf 1218 Fälle gestiegen ist.
Das sind also im Schnitt über drei Fälle jeden einzelnen Kalendertag.
Wer telefoniert mit wem?
Die rückwirkend angeordneten Fälle, also Verbindungsnachweise, welche die Frage beantworten, wer mit wem, wann, wo und wie lange telefoniert hat, legten immerhin um fünf Prozent auf rund 4800 Fälle zu.
Notfälle, um verunfallte Wanderer oder verschwundene Kinder zu finden und zu retten, nahmen 2022 zwar um 26 Prozent auf 912 Fälle zu. Doch solche eigentlich «positiven» Spitzelmassnahmen betreffen nicht einmal zehn Prozent der gesamten Abhörfälle und der Anstieg dürfte auf die Nach-Corona-Zeit mit mehr Ausflügen & Co. zurückzuführen sein.
Kaum noch Fahndungen
Zur Fahndung ausgeschriebene Personen wurden 2022 nicht besonders eifrig gesucht. Ihre Anzahl ging um 40 Prozent auf bloss noch 9 zurück.
Die Schweiz will also kaum noch Personen aufspüren, gegen die in einem rechtskräftigen und vollstreckbaren Entscheid eine Freiheitsstrafe verhängt oder eine freiheitsentziehende Massnahme angeordnet wurde.
Müsste dieser Wert nach der Coronavirus-Pandemie nicht eigentlich steigen? Wahrscheinlich schon. Und Laien könnten sogar meinen, dass gerade bei Fahndungen viele solcher Fernmeldeüberwachungen zum Einsatz kämen – doch das stimmt offensichtlich nicht.
Verdopplung der Schnüffelaktionen
Dagegen legten die Spitzelgesuche in einem anderen Bereich aber exorbitant zu. Fast um 100 Prozent erhöhten sich die Abfragen mit einem Antennensuchlauf gegenüber dem Vorjahr auf 3317 Fälle.
Bei einem Antennensuchlauf interessiert laut dem EJPD-Jahresbericht eine Mobilfunkzelle beziehungsweise ein öffentlicher WLAN-Zugangspunkt.
Erfasst werden alle angefallenen Kommunikationen, Kommunikationsversuche und Netzzugänge innerhalb einer bestimmten Periode.
Diese Abhörmassnahme der Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden hat sich also gegenüber dem Jahr 2021 verdoppelt. Eine Erklärung dafür gibt es im Jahresbericht allerdings nicht.
In einer früheren Publikation hiess es, dass mehr Antennen in einem Suchgebiet zu einem Anstieg beitragen könnten. Ob das hierbei der Fall ist, bleibt allerdings offen.
Bespitzeln des Volkes
Schweizer Strafverfolgungsbehörden und der Nachrichtendienst des Bundes können zur Aufklärung schwerer Straftaten gestützt auf die Strafprozessordnung beziehungsweise auf das Nachrichtendienstgesetz solche Massnahmen zur Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs anordnen.
Die Schweiz sollte dabei aber ein Staat sein, der solche Abhörmassnahmen der Öffentlichkeit im Nachhinein klipp und klar präsentiert.
Der einstige Fichenskandal hat das Vertrauen der Bürger in den Schweizer Staat genug erschüttert, wo die Behörden persönliche Daten tausender Bürger gesammelt hatten.
Schlechtes Gewissen?
Angesichts der Explosion der Abhörfälle scheint es den «Übeltätern» selbst etwas unwohl dabei zu sein.
Das Einzige, was die Verantwortlichen nämlich zahlenmässig versuchen, ist die Zahl der Abhörmassnahmen kleinzureden.
«Gemäss polizeilicher Kriminalstatistik wurden 2022 in der Schweiz 549.404 Delikte gemeldet. Bei deren Verfolgung kam die Ermittlungsmassnahme Fernmeldeüberwachung mit 10.253 Überwachungen vergleichsweise selten zum Einsatz», hiess es zur Relativierung im EJPD-Bericht.
01.08.2023/kut.