Otto Bitterli: «Neuanfang im Gesundheitswesen nötig»

Otto Bitterli
Otto Bitterli kritisiert das Gesundheitssystem. (Bild: z.V.g.)

Die Erhöhungen der Prämien von 8,7 Prozent schocken die Schweiz und «Weiter wie bisher» geht kaum noch. Das Land braucht einen Neustart im Gesundheitswesen.

Von Otto Bitterli, Präsident von Helvetic Care und Ex-CEO der Krankenkasse Sanitas

Noch vor Bekanntgabe der Prämienerhöhung bei den Krankenkassen empfahl die ehrwürdige «Neue Zürcher Zeitung» den Bürgern, sie könnten doch in Gemeinden mit günstigeren Krankenkassenprämien umziehen.

Die Politik geisselte ebenfalls im Voraus, man möge das Obligatorium in der Krankenversicherung überdenken oder gleich die Einheitskasse einführen.

Erfolgloser Berset

Experten beteuerten zudem, die Prämienerhöhung sei gar nicht so schlimm, denn das Land bewege sich im Langfristvergleich noch unter dem Durchschnitt. Eigentlich sei die Prämienerhöhung auf den angeordneten Reserveabbau und auf den erfolglosen Gesundheitsminister Alain Berset zurückzuführen.

Und fast ginge bei alldem vergessen, dass die Schweiz eigentlich eines der besten Gesundheitssysteme der Welt hat.

Rechtzeitig im Zusammenhang mit den Wahlen haben sich alle, von links bis rechts, rasch etwas zu den exorbitanten Krankenkassenprämien zurechtgelegt. Die Linke proklamiert die Einheitskasse.

Eine überparteiliche Allianz sucht das Heil in Prävention.

Hohen Löhne der CEOs

Und die Rechte will am Obligatorium rütteln. Auch die Kantone bringen sich in Stellung, wie etwa Bern mit der Aussage «Die Reichen können mehr bezahlen».

Die FDP hält ein alternatives light Modell bereit. Und die Mitte kritisiert die hohen Saläre der Krankenkassen-Chefs, das Lobbying und möchte unbedingt die einheitliche Finanzierung von stationären und ambulanten Leistungen (EFAS) durchbringen.

Doch eigentlich waren sich bis vor kurzen alle einig, dass es die EFAS braucht, damit sich nicht die Kantone heimlich aus der Finanzierung verabschieden können und der Trend zu Mehrbehandlungen im ambulanten Bereich vollständig auf die Krankenkassen und damit auf das Volk überwälzt wird.

Kantone unterschätzt

Endlich wollte das Land – nach über 10 Jahren Diskussion – das Dossier Gesundheitswesen den Kantonen entziehen und zumindest die Finanzierung sukzessive via die Krankenkassen auf die Bundesebene heben.

Aber dabei wurde die politische Macht der Kantone wohl unterschätzt. Diese haben mit ihren Forderungen nach zusätzlicher Planung, dem Einbezug der Pflege bis hin zu Überprüfungsmöglichkeiten der durch die Krankenkassen bezahlten Leistungen das Fuder überladen.

Statt das Gesundheitswesen gemeinsam und einvernehmlich auf eine nationale Ebene zu heben, droht nunmehr eine Zementierung des bisherigen Systems mit Planungsdschungel.

Milliarden zu Helsana und CSS

Die Krankenkassen sollen zirka 11,9 Milliarden Franken von den Kantonen erhalten. Sie würden damit eine wesentlich stärkere Rolle nicht nur bezüglich Akutmedizin, sondern auch im Zusammenhang mit der Alterspflege einnehmen.

Geht man von einem Marktanteil von zirka 15 Prozent der beiden grössten Versicherer der Schweiz, die Helsana und die CSS aus, dann wären dies je gut 1,75 Milliarden Franken jährlich, welche diese seitens der Kantone erhalten würden.

Doch wie genau sollen diese im Korsett des Vertragszwangs damit die Effizienz bei der Leistungserbringung inklusive der Pflege steigern? Das steht in den Sternen.

Zementieren der Missstände

Die Systeme der Planung sowohl in der Akutmedizin als auch in der Pflege würden nämlich wieder kantonal ausgebaut: Wer sich in der Akutmedizin je mit Vertrags-, Listen- und Nichtlistenspitäler, Operationslisten und Leistungsaufträgen beschäftigt hat, kennt den Dschungel.

Dieser wird sich dann ambulant und kantonal unterschiedlich vollziehen. Doch dies ist nur der Anfang: mit dem Einbezug der Pflege werden die bestehenden kantonalen und Pflegeheimplanungen sowie Regelungen verstärkt und stärker auch im ambulanten Pflegeteil (Spitex) Anwendung finden.

Und da wird es echt akribisch: Restfinanzierungen, Pflegestufenindizes, Anspruch auf Ergänzungsleistungen, Vermögensverzehr generieren ein schier undurchsichtiges Planungssystem.

Man hat den Eindruck, dass die Kantone EFAS verhindern wollten und selbst überrascht sind, dass der Bund ihnen derart grosszügig entgegenkommen ist … Doch zu welchem Preis?

Genau, die vorhandenen Missstände werden noch tiefgehender und fester zementiert.

Chance nutzen

Mit der Wahl einer neuen Bundesrätin oder eines neuen Bundesrates und mit einem neu gewählten Parlament ergibt sich aber ein gutes Momentum für das Land.

Es ist nämlich an der Zeit, eine Grundsatzdiskussion über die Zukunft unseres Gesundheitswesens, zu deren Finanzierbarkeit und zur gleichzeitigen Aufrechterhaltung des Zugangs für alle zu führen.

Zu klar sind zunehmende Versorgungsengpässe zu erkennen, wenn es etwa um den Fachkräfte- und den Ärztemangel geht.

Zu klar sind zunehmende Finanzierungsbelastungen zu erkennen, wenn es um die steigenden Defizite bei Spitälern bei gleichzeitig überbordenden Investitionsvolumina in Milliardenhöhe geht.

Und zu klar ist der Missstand, dass weitere Prämienverbilligungen lediglich den politischen Kompromiss zwischen links und rechts und zwischen Kopfprämien und Steuermitteln herbeiführen, aber nicht die Probleme lösen.

Vieles bleibt aussen vor

Obendrein ist es ein Konstruktionsfehler unseres Gesundheitswesens, dass es als reines Versicherungsgesetz der Grundversicherung (KVG) reguliert wird. Die Frage nach der optimalen Versorgung geht fast gänzlich unter. Die kantonalen und die Bundessteuern werden nur am Rande einbezogen.

Die zehn Milliarden Franken, welche über private Zusatzversicherungen eingebracht werden, sind gar nicht berücksichtigt. Auch werden die von allen geleisteten «out of Pocket»-Beträge für Gesundheitsleistungen gar nicht einbezogen.

Transparenz ist kaum gegeben.

Konsens erarbeiten

Um Änderungen am System herbeizuführen, bräuchte es aber als Erstes das breite Eingeständnis der Politik, dass es so nicht mehr weitergehen kann.

Es bräuchte den Konsens der Politiker, dass die ewige Diskussion zwischen Steuern- und Kopfprämienfinanzierung erschöpft ist.

Es bräuchte zudem den Mut und den Willen, das Gesundheitswesen der Schweiz grundsätzlich neu und – für einmal – nicht von der Finanzierung her, sondern von der Versorgung der Menschen her zu denken.

Diesen Konsens müsste der neue Gesundheitsminister oder die Gesundheitsministerin zunächst einmal erarbeiten.

Zehn Prozent einsparen

Zu empfehlen wäre danach eine Ausschreibung von Projekten, wie unser Gesundheitssystem in Zukunft aussehen könnte. Es bräuchte einen Ideenwettbewerb für die Ausgestaltung eines völlig neuen Gesundheitswesens auf der «grünen Wiese».

In dieser Ausschreibung wären Rahmenbedingungen, wie der Zugang für alle Einwohner, die Versorgungssicherheit, die Stärkung des Forschungsstandorts, die konsequente Nutzung der Digitalisierung, Auslandsvergleiche oder die künftige Finanzierbarkeit bei gleicher Qualität, zu berücksichtigen.

Ziel müsste es sein, bei gleicher Qualität mindestens zehn Prozent günstiger als das aktuelle Gesundheitswesen zu sein. Das Land sollte also nur noch 80 statt 90 Milliarden Franken pro Jahr für Gesundheit ausgeben.

Vorhandenes Geld nutzen

Der Bundesrat könnte drei bis fünf solcher Projekte auswählen und finanzieren. So gelänge es, unabhängig von den aktuellen politischen Sachzwängen, die – in unserem Land zweifellos vorhandene – Intelligenz und auch die nächste Generation aktiv einzubeziehen.

Geld dafür wäre auch schon vorhanden.

Die seitens des Parlamentes noch nicht abschliessend gesprochenen Mittel zur «Digitalisierung des Gesundheitswesens (Digisanté)» könnte die Schweiz nämlich für den Ideenwettbewerb verwenden.

Denn auch die Digitalisierung bringt nur entsprechenden Nutzen, wenn diese konsequent in einem gesamten System eingebettet ist und so zum Tragen kommt.

________________________________________________________________________________________

14.10.2023/ Gastbeitrag des Krankenversicherungsexperten Otto Bitterli, Verwaltungsratspräsident von Helvetic Care und Ex-CEO der Krankenkasse Sanitas

Otto Bitterli: «Neuanfang im Gesundheitswesen nötig»

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert