Aussenminister Ignazio Cassis ist in der Öffentlichkeit oft negativ mit Aussagen aufgefallen. Nun passiert aber das Gegenteil und kommt gut an.
Der FDP-Bundesrat und Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis hält oft sonderbare Reden.
Doch nun hat er eine Ansprache vor einem erlauchten Kreis gehalten, die derzeit unter Eingeweihten die Runde macht, weil sie den aktuellen Zustand der Welt erstaunlich prägnant erklärt.
Über 50 Prozent der Exporte
«Russisches Gas, chinesische Produkte, amerikanische Waffen», sagte Cassis während seines Auftritts unlängst beim Pharmakonzern Novartis in Basel, der Gastgeber für die Generalversammlung von Scienceindustries war.
Die Lobbyorganisation vereinigt Unternehmen der chemischen und pharmazeutischen Industrie sowie angrenzender Branchen, die für über 50 Prozent der Schweizer Exporte und rund 80.000 Arbeitsplätze im Inland verantwortlich sind.
Wettbewerb der Grossmächte
Nach dem Fall der Berliner Mauer hätten viele Menschen an den endgültigen Triumph des westlichen Demokratiemodells geglaubt, sagte Cassis weiter.
«Heute muss man feststellen, dass wir naiv, ja sogar anmassend waren», hob der liberale Politiker in Basel hervor, wie muula.ch der Rede entnahm.
Der Wettbewerb zwischen den Grossmächten, also vor allem der Wettbewerb zwischen ihren gesellschaftlichen Organisationsformen – Demokratie auf der einen, Autokratie auf der anderen Seite – verschärfe sich massiv, betonte Cassis.
Und mit ihm: die militärische Aufrüstung, hiess es.
China profitiert
Russland sei auf der Suche nach seiner früheren Macht, doch scheine nicht auf dem richtigen Weg zu sein.
Obwohl fast ein Drittel der internationalen Gemeinschaft den russischen Krieg gegen die Ukraine nicht ausdrücklich verurteile, sei Russland zunehmend isoliert.
China unterstütze Russland zwar, enthält sich aber einer militärischen Intervention. Es profitiert laut dem Schweizer Aussenminister sowohl vom billigen Gas als auch von den Kriegsschulden der USA.
Globaler Kampf
Nach dem alten Sprichwort «Teile und herrsche» weite China seinen geostrategischen Einfluss aus und rüste massiv auf.
Das Land spiele sich als friedenssichernde Grossmacht auf – sowohl in Europa als auch in der Golfregion -, richte aber gleichzeitig seine militärische Aufmerksamkeit auf Taiwan, so die Erklärungen.
Die USA – seit 1945 die grösste Militär- und Wirtschaftsmacht der Welt – fühlten sich von China zunehmend konkurrenziert.
Und sie reagierten daher mit einer gewissen Irritation: Die chinesisch-amerikanische Rivalität habe sich zu einer globalen Angelegenheit entwickelt, betonte Cassis am Pharmastandort Basel um Novartis, Roche & Co.
Europäische Abhängigkeiten
Die Amerikaner verlangten von anderen Staaten, dass sie sich für eine Seite entscheiden, und üben damit zunehmend Druck auf diese aus.
Gleichzeitig sind sie laut Cassis mehr denn je mit ihrer Innenpolitik beschäftigt, die Spannungen und Risse mit sich bringt.
Europa habe sich in den vergangenen 30 Jahren von seinen Errungenschaften in Sicherheit wiegen lassen.
Die militärische Aggression Russlands habe aber unsere Sicherheitsarchitektur untergraben und unser Wertesystem infrage gestellt.
«Wir sind uns unserer Abhängigkeit von den Grossmächten bewusst geworden» – eben russisches Gas, chinesische Produkte und amerikanische Waffen.
Augen geöffnet
Es sei eine regelrechte Zeitenwende, machte Cassis die Situation der Welt klar.
Der Angriff Russlands sei nur die Zäsur, die uns die rosarote Brille von den Augen genommen habe. Er sei sozusagen der Moment gewesen, in dem die Zeitenwende sichtbar geworden sei.
Global betrachtet ist sie aber gemäss den Ausführungen nur Ausdruck von drei Trends, die schon eine längere Zeit zu beobachten sind:
Recht der Macht gewinnt
Erstens, eine Häufung von Krisen und deren zunehmende Dauer, welche die Staatengemeinschaft auf eine harte Probe stellt und ein Gefühl der allgemeinen Unsicherheit verbreitet.
Zweitens, die Rückkehr der Machtpolitik, das heisst, die Rückkehr einer Welt, in der das «Recht der Macht» wichtiger wird als die «Macht des Rechtes».
Und drittens, der Wendepunkt der Globalisierung in Richtung De-Globalisierung oder Regionalisierung.
Es sei die Wiedergeburt von Nationen, die sich aus der Armut befreien und die Sehnsucht nach glorreichen Vergangenheiten entdeckten. Protektionismus und Entflechtung von Lieferketten gingen allerdings damit einher.
Umbruch der Weltwirtschaft
«Derisking» & «Decoupling» hob Cassis dabei als die neuen Schlagworte hervor. «Die Weltwirtschaft befindet sich in einem tiefen Umbruch», beschrieb er die Situation.
Die Welt wird also weniger global, weniger westlich, weniger demokratisch. Sie ist unsicherer geworden.
Die Solidaritätsdynamik der Nachkriegszeit lasse nach, und die Systeme zur Verhinderung eines neuen Weltkonflikts – allen voran jene der Uno – seien im Umbruch.
Karten neu mischen
«Für den Westen – für die Demokratie – sind das keine good news. Die Jassfreunde unter Ihnen würden sagen: Die Karten werden gerade neu gemischt», sprach der Schweizer Aussenminister bildlich.
Die Schweiz habe dabei allerdings weder die Stärke noch das Interesse für machtpolitische Manöver.
«Für unsere Sicherheit und unseren Wohlstand sind wir auf eine regelbasierte Ordnung und offene Märkte angewiesen», hiess es.
Es gehe dem Land gut, wenn die «Macht des Rechts» gewichtiger ist als das «Recht der Macht».
Umgang mit EU bestimmen
Gerade die neue geopolitische Lage sollte uns zu mehr Bescheidenheit und Flexibilität zurückführen. Es brauche Pragmatismus, so Casis.
Damit verbunden ist laut der Rede auch ein unverkrampfter Umgang mit dem Ausland und ganz besonders mit der EU.
Die Schweiz liege im Herzen Europas und in einer Welt, die nicht mehr nur vom Westen dominiert werde, sei das Land ein Teil einer Schicksalsgemeinschaft mit unseren europäischen Nachbarn.
«Gesundheit, Strom, Forschung, Handel, Verkehr, Finanzen: Überall brauchen wir geregelte Beziehungen, um unsere exportorientierte Wirtschaft – und somit unsere Prosperität – zu festigen und zu erhöhen», machte Cassis weiter klar.
Hilferuf von Cassis
Um an das Ziel zu kommen, müsse das Land dabei die Aussen- und Innenpolitik miteinander verzahnen, hiess es.
Der FDP-Politiker warb vor den Anwesenden für eine Unterstützung. Gemeint war bei alldem der Kampf gegen die SVP und ihre Ablehnung einer Annäherung an die EU. Doch das sagte der Diplomat dann nicht so klar.
Aber die Aussagen deuten klar daraufhin, dass er auf der Suche nach Verbündeten in dieser schwierig neuen Weltlage ist.
Cassis schloss seine bemerkenswerte Rede aber mit den Worten: «Wenn wir weit gehen und erfolgreich sein wollen, dann müssen wir gemeinsam gehen» und brachte erstaunlich prägnant vor den Chefs vieler international ausgerichteter Konzerne die Situation auf den Punkt.
10.06.2023/kut.