Die Schweiz veräppelt die EU

Viola Amherd mit Ursula von der Leyen an der Swiss Peace Summit auf dem Bürgenstock
Viola Amherd im Gespräch mit Ursula von der Leyen auf dem Bürgenstock. (Bild: PD)

Die Schweiz bestätigt, dass ihre Arbeitnehmer einen gleichwertigen Schutz analog zur EU hätten. Doch darüber lachen selbst die Hühner.

Wer etwas durch Lügen erreicht, wird es durch Wahrheit verlieren, lautet eine Weisheit.

Dies dürfte die Schweiz bald zu spüren bekommen, wie ein aktuelles Beispiel aus dem Bundesrat zeigt.

Unbedeutende Unterschiede

Die Schweiz habe zwölf Rechtstexte der EU und deren Umsetzung in Mitgliedstaaten, wie Deutschland, Frankreich oder den Niederlanden, unter die Lupe genommen, teilte der Bundesrat über das Wirtschaftsdepartement WBF diese Woche mit.

Die vergleichende Prüfung habe ergeben, dass die Schweizer Gesetzgebung in grosser Mehrheit der Fälle dem EU-Recht entspreche, hiess es.

Nur punktuelle Unterschiede seien festgestellt worden, wovon viele unbedeutend seien, erklärten die Schweizer Beamten freudig.

Schweiz schaut auf USA

Daraus leitet die Schweizer Regierung die Botschaft an die EU ab: «Schweizer und EU-Recht garantieren gleichwertigen Arbeitnehmerschutz», denn so lautete gleich der Titel des Communiqués.

Die Kernbotschaft ist aber völlig falsch.

Der Schutz Schweizer Arbeitnehmer lehnt sich an das flexible US-Arbeitsrecht ohne grosse Gewerkschaftsmacht & Co. an und eben gerade nicht an den Schutzvorkehrungen der EU.

«Entledigen» zu jederzeit

Dies wissen die Schweizer Beamten auch, die selbst nach Jahrzehnten an Beschäftigung für den Bund ohne jeglichen Grund mit entsprechender Kündigungsfrist entlassen werden könnten.

Der Schweizer Arbeitsmarkt läuft genau deswegen so gut, weil Arbeitgeber ihre Angestellten jederzeit problemlos und ohne Abgangsentschädigungen loswerden können.

Euroairport lässt grüssen

Und gibt es mal Streit, wäre eine Entschädigung für eine Person ohnehin auf maximal sechs Monatslöhne beschränkt.

Oftmals sorgen die Vergleiche nur für Kompensationen von einem bis drei Monatsgehältern – wenn überhaupt.

Hohe Prozesskosten limitieren zudem höhere Forderungen der Arbeitnehmer, was praktisch für die Unternehmen ist.

Ein kleiner Blick nach Deutschland oder Frankreich oder nur schon zum Euroairport in Basel mit Schweizer Arbeitsrecht auf französischem Staatsgebiet zeigt, dass die Situation eine ganz andere ist.

Insgesamt ausgewogen?

Selbst bei Massenentlassungen dürfen Schweizer Arbeitgeber machen, was sie wollen.

Einzig ein Anhörungsrecht der Belegschaft zur Unterbreitung von Alternativvorschlägen existiert. Viele Firmen hören sich die Sache an und machen weiter, wie ohnehin geplant. Gerade in Frankreich und Deutschland ist so etwas undenkbar.

Dennoch kommt Bundesbern zum Schluss, dass die Situation im Bereich Arbeitnehmerschutz insgesamt ausgewogen sei, und sich keine Anpassung des Schweizer Rechts aufdränge, um das gleiche Schutzniveau der EU zu erreichen.

Geschickt auswählen

Doch wer glaubt, die Krux bei der Sache liege im Wörtchen «gleichwertig», was impliziert, dass das das Schweizer Recht nicht gleich, aber eben den gleichen Wert für Arbeitnehmer aufweise, der irrt sich ebenfalls.

«Die überprüften Rechtsakte sind nicht Gegenstand der laufenden Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU», steht im Kleingedruckten.

Die Aussagen des Bundesrates betreffen also gerade nicht die Diskussion um die Angleichung des Rechts von entsandten Arbeitnehmenden gemäss Anwendungsbereich des Abkommens zur Personenfreizügigkeit, die derzeit im Fokus der Öffentlichkeit sowie der Gewerkschaften stehen.

Augenscheinlich anders

Die Schweizer Beamten schreiben denn auch subjektive Einschätzungen in ihren Analysen: So findet sich etwa folgender Satz im Gesamtbericht:

«Die automatische Übertragung der Arbeitsverträge besteht im französischen Arbeitsrecht zwar seit 1928, aber die französische Gesetzgebung geht augenscheinlich nicht über die Vorgaben der Richtlinie 2001/23/EG hinaus».

Dies gibt der Schweiz wieder Spielraum bei der «Gleichwertigkeit».

Bund pfeift Genf zurück

An anderer Stelle findet sich eine vage Aussage zu den Schweizer Besonderheiten:

«Die speziellen Mitspracherechte decken jedoch sehr breit gefasste Bereiche ab, sodass dieser formale Unterschied keine nennenswerten materiellrechtlichen Lücken zur Folge zu haben scheint».

In der Schweiz gibt es keinen Elternurlaub auf nationaler Ebene.

In einigen Branchen oder Unternehmen werde er jedoch gewährt, führten die Beamten aus. Im Kanton Genf hat das Volk beispielsweise eine Initiative angenommen, welche die Einführung eines kantonalen Elternurlaubs von 24 Wochen verlangt.

Doch der Bund pfiff – wie muula.ch berichtete – den Kanton gleich wieder zurück, weil die Genfer eine paritätische Finanzierung wollten und dies nicht mit Bundesrecht vereinbar sei.

So ausgewogen ist eben das Land und die sogenannte Sozialpartnerschaft.

Begriffe umdefinieren

In der Schweiz existiert auch kein nationaler gesetzlicher Mindestlohn.

«Es stellt sich gleichwohl die Frage, ob die sozialpolitisch motivierten Mindestlöhne auf kantonaler Ebene unter die Definition des ‚gesetzlichen Mindestlohnes‘ gemäss der EU-Richtlinie fallen», schrieben die Schweizer Beamten und definieren einfach den Begriff um.

Da es sich zudem um eine neuere EU-Richtlinie handelt, die noch nicht umgesetzt worden sei, lasse sich nicht feststellen, ob auch regional festgesetzte Mindestlöhne unter den Begriff des «gesetzlichen Mindestlohns» fielen, schränkte die Schweiz beim Rechtsvergleich zum nationalen Mindestlohn gleich noch mit ein.

Differenz kleinreden

Im Gegensatz zur EU-Richtlinie enthält das Schweizer Arbeitsrecht keine Definition des Begriffs «Ruhezeit».

Gleichwohl sei «Ruhezeit» nach derselben Logik wie bei der Richtlinie als jede Zeitspanne zu verstehen, die nicht als Arbeitszeit gilt, relativierte der Bund die Unterschiede und redete die Differenz gleich.

Und so geht das immer weiter.

Der Fokus liegt auf Wörtern, wie «im Grossen und Ganzen» oder «es sei unerheblich» oder «entspricht in mehreren Aspekten dem Grossteil der Anforderungen».

Streit vorprogrammiert

Doch etwas ist zwischen Bern und Brüssel recht gleich.

«Durch das Verwenden solch vager Begriffe spielt der Europäische Gerichtshof eine entscheidende Rolle bei der Fortentwicklung und Auslegung der arbeitsrechtlichen Richtlinien, insbesondere bei den technischeren unter ihnen», schrieb das beauftragte Schweizerische Institut für Rechtsvergleichung im Gutachten.

Die Interpretationen des Europäischen Gerichtshofs seien massgebend und könnten Mitgliedstaaten dazu zwingen, auch Jahrzehnte nach Umsetzung der EU-Richtlinie noch ihre Gesetzgebung zu ändern.

Vollbeschäftigung im Blick

Ohne Übertreibung kann man das Schweizer Arbeitsrecht mit amerikanischen Verhältnissen von «Hire and Fire» vergleichen.

Und solange Vollbeschäftigung im Land herrscht und alle Schweizer (aber nicht die in der Schweiz lebenden Ausländer) einen Arbeitsplatz haben, wird sich daran wohl auch nicht viel ändern.

Mit schwammigen Begriffen schaffen Schweizer Beamte die Gleichwertigkeit zur EU.

Irgendwann wird sie die Wahrheit dann jedoch einholen.

08.09.2024/kut.

Die Schweiz veräppelt die EU

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert