Die Sicherung der Stromversorgung in der Schweiz bringt unglaubliche Entscheide hervor. Das Land des Schneckentempos schmeisst plötzlich sämtliche Prinzipien über Bord.
Das mögliche Schlittern in eine Strommangellage in diesem Winter werde einfach als Vorwand genommen, um Entscheide von enormer Tragweite zu treffen. Mit solchen harschen Worten kritisierte der Zürcher Rechtsprofessor Alain Griffel die aktuellen politischen Entwicklungen der Schweiz.
«Die Verordnungen zum Notkraftwerk in Birr hätten eigentlich die Feststellung einer akuten Strommangellage vorausgesetzt», betonte er in einem Interview mit der «WOZ».
Deckmantel Energiekrise
Während Regierungs- und Parlamentsentscheide zur Coronavirus-Pandemie seiner Meinung nach wegen der ausserordentlichen Notlage durchaus zu dringlichem Handeln nötig waren, ist es nun beim Strommangel völlig anders.
«Ich habe grosse Zweifel daran, dass auch nur eins von den Projekten, die jetzt auf dem Gesetzesweg durchgeprügelt werden sollen, in fünf Jahren schon am Netz sind», begründete der Wissenschafter von der Universität Zürich seine Bedenken zu den beschlossenen Energieprojekten. Für den kommenden Winter hilft das Eiltempo in der Energiekrise also wenig.
Man könne heutzutage auch nicht wie vor siebzig Jahren mit einem einfachen Beschluss eine Autobahn durch eine Moorlandschaft bauen, mahnte er weiter.
Völliges Durcheinander
Es widerspreche zudem zahlreichen Gesetzen, etwa die Grimselstaumauer im Expressverfahren zu erhöhen. All dies führe so ohne raumplanerische Grundlage zu völlig unklaren Prozessen sowie chaotischen Verantwortlichkeiten, erklärte der Zürcher Staatsrechtler obendrein.
Mit einer solchen Vorgehensweise zwänge man Umweltschutz-Organisationeni, bis vor Bundesgericht zu klagen, um Klarheit über die Angelegenheiten zu haben, betonte er. «Das wird sicher nicht zu einer Beschleunigung, eher zu einer Verlangsamung von Bauvorhaben führen», gab der Rechtsprofessor zu bedenken.
Falle für Umweltschützer
Aber dies sei vielleicht Teil des Kalküls, so Griffel, die Umweltorganisationen auf diese Weise in die Ecke zu drängen und ihnen Zwängerei vorzuwerfen.
Mit dem Krieg in der Ukraine und der Versorgungskrise sei grosser Handlungsdruck in der Politik entstanden. «Und gewisse Kreise nutzen das schamlos aus, um den Umweltschutz abzubauen», warnte der Professor.
Dabei gehe es nicht nur um Umweltpolitik, sondern das sei eine eminent staatspolitische Geschichte geworden, erklärte der Rechtsexperte die neue Situation.
Gefährliche Präjudiz
Keine Vernehmlassung, kein Einbezug der Kantone und der politischen Organisationen, keine Abstützung durch eine bundesrätliche Botschaft, alles irgendwie dringlich – dies sei das Hauptproblem. Damit könne sich das Parlament in anderen Kontexten künftig auf dieses Präjudiz berufen, kritisierte der Staatsrechtler.
«Eine Verfassung dient in einem Rechtsstaat gerade auch dazu, die Macht der Staatsorgane zu begrenzen. Auch die Macht des Parlaments», sagte der Professor weiter.
Schamloses Ausnützen
Weil die Schweiz ohnehin nur eine sehr beschränkte Verfassungsgerichtsbarkeit habe, habe das Land keine Kontrolle über all die ganzen Vorgänge.
«Und das nützt das Parlament seit neustem schamlos aus», hob er gegenüber der linken «WOZ» hervor.
06.10.2022/kut.