Vielen Krankenkassen steht das Wasser bis zum Hals. Das Bundesamt für Gesundheit BAG schaut den Gesetzesverstössen einfach zu.
Das Bundesamt für Gesundheit BAG drückt sich um die Antwort der wichtigsten Frage.
Täuscht der Eindruck, dass das BAG in seiner Aufsicht weniger strikt vorgeht als auch schon?
Risikomanagement im Fokus
Genau diese Frage hatte muula.ch der Abteilung Versicherungsaufsicht des BAG gestellt, die von Philipp Muri geleitet wird.
Die Abteilung beaufsichtigt die Versicherer unter anderem in den Bereichen Governance, Risikomanagement, Solvenz und Kapitalanlagen.
Hundertfache Finanzkraft
Im Jahr 2021 lag die Solvenzquote der Schweizer Krankenkassen im Schnitt bei 207 Prozent.
Die Krankenversicherer des Landes hatten – grob gesprochen – doppelt so viel Geld, als sie für Leistungen sowie Verwaltungskosten hätten vorhalten müssen und würden dennoch einen Marktschock aushalten.
Dabei kamen einzelne Krankenversicherer, wie Spitzenreiter Krankenkasse Visperthermen, auf hervorragende Solvabilitätsquoten von 656 Prozent.
Amt beobachtet und prüft
Schlusslichter im Markt waren im Jahr 2021 nur die beiden Gesellschaften der Luzerner CSS-Gruppe, Arcosana und Sanagate. Diese erfüllten die gesetzlichen Vorgaben nicht und wiesen als einzige Werte von unter 100 Prozent bei der Solvenz aus.
Das BAG beaufsichtigt die Krankenkassen mit ungenügender Solvenzquote laut der Medienstelle intensiv.
Die «Übeltäter» müssten regelmässige Finanzreportings an die Aufsichtsbehörde übermitteln, hiess es auf eine entsprechende Anfrage von muula.ch.
«Gestützt auf diese Reportings beobachtet und prüft die Aufsichtsbehörde die finanzielle Entwicklung sehr genau», erklärte das BAG weiter.
Erst wenn die Krankenkasse keine oder ungenügende Massnahmen ergreife, die zeitnah wieder zu einer Solvenzquote von mindestens 100 Prozent führten, ordne das BAG eigene Massnahmen an, führte der Regulator in der Grundversicherung aus.
CSS-Gruppe fällt negativ auf
Der KVG-Solvenztest ergab dann für das Jahr 2022, dass die Branche nur noch auf einen Solvenzwert von 163 Prozent kam.
Das waren auf einen Schlag 44 Prozentpunkte weniger. Einstiger Spitzenreiter Visperthermen rutschte nach nur 12 Monaten auf 353 Prozent ab.
Kein einziger Krankenversicherer wies in dem Jahr jedoch eine ungenügende Solvenzquote auf.
Sorgenkind Arcosana kam als Schlusslicht im Markt aber bloss auf einen Wert von 114 Prozent und damit den «magischen» 100 Prozent einer fehlenden Finanzkraft sehr nah.
Daher wurde Arcosana vorsorglich zum 1.1.2023 mit dem Grundversicherer des Mutterhauses CSS fusioniert.
Die CSS Grundversicherung selbst kam damals auf eine noch gute Solvenzquote von 212 Prozent.
Finanzkraft der Branche halbiert
Ein Jahr später, zum Solvenztest 2023, wendete sich allerdings das Blatt komplett.
Statt dass sich die Solvenz der Schweizer Krankenversicherer besserte, rutschte die Branche unter der Aufsicht des BAG plötzlich stark ab und kam nur noch auf 130 Prozent.
Das ist ein Einbruch um 33 Prozentpunkte gegenüber dem Vorjahr. Innerhalb von nur zwei Jahren waren damit aber fast 100 Prozentpunkte der Puffer aller Krankenkassen verschwunden.
Deutliche Unterschiede im Markt
Statt zwei säumigen Gesellschaften, wie noch im Jahr davor, wies die Statistik nunmehr plötzlich sieben Problemfälle auf.
Die Krankenkasse KLuG kam im Jahr 2023 auf einen sehr schlechten Solvenzwert von nur 43 Prozent und hätte eigentlich nicht mehr weiterexistieren dürfen. Der Krankenversicherer Provita erreichte bloss 66 Prozent.
Gleichzeitig gab es im gleichen Markt durchaus aber auch Gesellschaften mit 400 oder fast 500 Prozent an Solvenz. Es trennte sich quasi die Spreu vom Weizen.
BAG dehnt Definition
Negativ fiel damals auch schon die Easy Sana auf, die zur Groupe Mutuel gehört und nur 70 Prozent an Solvenz erreichte. Dort waren also dringend Massnahmen angezeigt, die zu einer «zeitnahen» Besserung der Finanzstärke führen sollten.
Das BAG erklärte, dass eine erste Massnahme sei, die Prämien für das Folgejahr so anzusetzen, dass es zu einem Reserveaufbau käme.
Diese Erklärung ist allerdings unbefriedigend, denn das Gesetz schreibt einen 100-Prozent-Mindestwert vor und dafür hat das BAG zu sorgen.
Klarer Fehltritt
Der Bundesrat, der für den Solvenztest zuständig ist, wollte bewusst eine Einteilung in nur zwei Kategorien.
«Ein bisschen solvent» sieht das Gesetz daher nicht vor.
Gesellschaften, welche die vorgeschriebenen Mindestreserven nicht aufbringen können, sind daher ganz klar nicht mehr solvent.
Das BAG hat eigentlich über die Einhaltung dieser Vorgaben zu wachen.
Überleben am Markt möglich
Wer nach dem Jahr 2023 dachte, die Solvabilität Schweizer Krankenkassen würde besser, der wurde wieder enttäuscht.
Für 2024 wiesen nicht mehr nur sieben, sondern plötzlich neun Gesellschaften keine ausreichende Solvabilität mehr auf.
Die Branche kommt auch nur noch auf einen schlechten Wert von 121 Prozent.
Besonders dramatisch ist die Situation bei der Krankenkasse KLuG, die laut BAG nur noch auf 24 Prozent an Solvenzquote heranreicht.
Das Zögern der Aufsichtsbehörde zeigt, dass die Situation bloss noch schlechter wird und insolvente Krankenkassen mit viel zu tiefen Prämien am Markt zu lange überleben können.
Dieses Jahr im Juni musste das BAG daher unterjährige Prämienerhöhungen bei der KLuG anordnen, weil die Finanzlage der Gesellschaft zu schlecht war.
Hoffnung statt Besserung
Schwierig ist erneut auch die Situation bei der Krankenkasse Easy Sana.
Statt einer in Aussicht gestellten Besserung sank die Solvabilität um weitere fast 20 Prozentpunkte auf nur noch 52 Prozent.
Mit solchen Werten kann kein Versicherer überleben, und doch passierte unter den Augen des BAG erneut nichts.
Als Lösung schiebt die Groupe Mutuel erst im nächsten Jahr die Easy-Sana-Versicherten ihrer Konzerngesellschaft Mutuel Assurance zu.
Doch auch dies dürfte keine Lösung sein, denn diese Krankenkasse hat selbst einen Solvenzwert von unter 100 Prozent.
Grosse Krankenkassen fallen zurück
Die Situation hat sich also selbst mit den zögerlichen Massnahmen nicht gebessert.
Wie sollte sich das Blatt auch wenden, wenn bei den Problemkassen nur die Prämien erhöht werden?
Dann gehen viele gesunde sowie mobile Kunden und zurück bleiben die teuren Fälle – sowohl in administrativer als auch in Leistungssicht.
Im Jahr 2024 kommen grosse Krankenkassen, wie die CSS oder die Assura, nur auf 84 beziehungsweise 88 Prozent an Solvenz.
Das sind bedrohliche Werte und entsprechen nicht dem Gesetz. Wohlgemerkt hatte etwa die CSS im Jahr 2022 noch eine Solvenzquote von 212 Prozent.
Die Problematik betrifft also keineswegs nur kleine Gesellschaften.
Neue Berechnungsmethode in Planung
Innerhalb von nur wenigen Monaten ist also die Finanzkraft der Schweizer Krankenkassen förmlich implodiert. Das BAG schaut dem Treiben einfach zu und die Manager der Krankenkassen haben genau dies wohl realisiert.
Statt der Schweiz also reinen Wein um die Dramatik im Gesundheitssystem einzuschenken, bastelt das BAG lieber im Hintergrund an einer neuen Berechnungsmethode für die Solvenz.
Die Werte sollen laut ersten Schätzungen für einen neuen Solvenztest sprunghaft steigen, was über die wahre Situation hinwegtäuschen soll.
Alles unter den Teppich kehren
Die Aufsichtsbehörde bewilligt unter der Führung von Abteilungsleiter Muri die Prämien und ist somit für deren Auskömmlichkeit letztlich verantwortlich.
Insofern sind die Krankenversicherer schön aus dem Schneider. Das BAG genehmigt aber offensichtlich viel zu niedrige Tarife als es die Situation vielerorts erfordert und damit sinkt die Finanzkraft der Versicherer dramatisch.
Die Antwort auf die Frage, ob das BAG grosszügiger über Missstände hinwegsieht, blieb die Aufsichtsbehörde zwar schuldig. Doch das ist eigentlich genau die Antwort.
Das Interesse des Amtes und der Beaufsichtigten ist in diesem Fall nämlich gleich: Das Kollektivversagen des Regulators im Zusammenspiel mit den Krankenkassen soll unter den Tisch fallen.
05.10.2024/kut.