Der Streit um das richtige Verhältnis der Schweiz zur EU nimmt zu. Doch gegen eine Kündigung der EU-Personenfreizügigkeit regt sich Widerstand.
Der Kampf um die Deutungshoheit, welchen Nutzen die Europäische Union (EU) für die Schweiz eigentlich bringt, wird mit härteren Bandagen geführt.
Ursache aller Übel?
Während die einen sagen, die EU ist die Lösung für sämtliche Probleme der Schweiz, reagieren die anderen empört.
Für sie ist die Personenfreizügigkeit quasi die Ursache für alle Schweizer Übel um Wohnungsknappheit, Verkehrsstaus und hohe Kosten im Gesundheitswesen.
Mangels seriöser wissenschaftlicher Studien lassen sich für beide Seiten meist Belege finden.
Immer mehr Pensionäre
In diesen Streit haben sich nun aber die Schweizer Arbeitgeber eingeschaltet.
Die Schweiz sei angesichts der demografischen Entwicklung auf die Zuwanderung von Arbeitskräften angewiesen, teilte der Schweizerische Arbeitgeberverband diese Woche mit.
Bereits heute gingen in der Schweiz mehr Arbeitskräfte in Pension, als Junge ins Berufsleben eintreten, hiess es weiter.
Verlust an Lebensqualität
Dieser Trend werde sich in den nächsten Jahren noch stark verstärken, warnten die Schweizer Arbeitgeber.
Dank der Personenfreizügigkeit mit der EU erhalte die Schweiz auf unbürokratische Weise diejenigen Arbeitskräfte, die sie benötige, wenn sie im Inland nicht genügend Personal findet, so der Verband.
Ohne die dringend benötigten Arbeitskräfte drohten Firmenwegzüge, der Verlust von Steuereinnahmen, weniger Innovation, eine schlechtere Versorgung und ein abnehmendes Dienstleistungs- und Serviceniveau, mahnten die Arbeitgeber weiter.
Dies führe letztlich zu einem Verlust an Wohlstand und Lebensqualität für alle.
Auch die AHV würde ohne die arbeitsmarktorientierte Zuwanderung schneller und stärker in Schieflage geraten, hiess es kritisch.
Nicht mehr als 10 Millionen
Doch statt die wahren Probleme anzugehen und konkrete Lösungen zu suchen, schaffe die SVP-Volksinitiative «Keine 10-Millionen-Schweiz» (Nachhaltigkeitsinitiative) zahlreiche neue Probleme, erklärte die Interessenvertretung der Arbeitgeber.
Denn wie bei der Abstimmung über die Kündigungsinitiative I im Jahr 2020, die vom Volk klar abgelehnt wurde, ziele die SVP auch mit der Kündigungsinitiative II explizit auf die Beendigung der Personenfreizügigkeit ab.
Die neue Initiative verlangt, die ständige Wohnbevölkerung der Schweiz bis zum Jahr 2050 auf zehn Millionen Personen zu begrenzen.
Wird diese Schwelle vorher überschritten, muss das Abkommen über die Personenfreizügigkeit mit der EU gekündigt werden.
Alle Abkommen werden hinfällig
Als Folge davon fällt allerdings das gesamte Paket der Bilateralen I mit der EU weg.
Es betrifft also auch die Abkommen über Land- und Luftverkehr, Landwirtschaft, Forschung, öffentliches Beschaffungswesen und den Abbau technischer Handelshemmnisse, weil mit der «Guillotine-Klausel» alle sieben Abkommen der Bilateralen I untrennbar miteinander verbunden sind.
Eine Annahme der Initiative bedeute somit das Ende des bewährten bilateralen Wegs mit der EU.
Dies bringe negative Folgen für den Wohlstand, die Wirtschaft und die Sicherheit in der Schweiz, warnen die Arbeitgeber und belegen dies mit Fakten.
Teil der Lösung
Die EU sei und bleibe die mit Abstand wichtigste Handelspartnerin der Schweiz.
Betrachte man das Schweizer Handelsvolumen, dann seien Baden-Württemberg und Bayern beinahe so wichtig wie China, die französischen Grenzregionen wichtiger als Japan und die italienischen Nachbarregionen wichtiger als Indien.
Die Personenfreizügigkeit mit der EU sei ein Teil der Lösung für das Arbeitskräfteproblem.
Deshalb brauche es wirksame Massnahmen gegen die unerwünschten Folgen der Zuwanderung sowie konkrete Lösungen in Bereichen wie Arbeitsmarkt, Asylwesen, Wohnungsbau und Infrastrukturpolitik.
Richtigen Weg suchen
Doch dabei ist eher die Schweiz und nicht die EU gefragt. Wer sich beispielsweise beim Wohnungsbau jahrzehntelang mit Einsprachen quasi selbst blockiert, treibt bei stetem Zuzug die Preise für Wohnraum auch selbst in die Höhe.
Die einen wollen daher den Zustrom der Menschen begrenzen, die anderen die Baubewilligungen beschleunigen.
Nur eins ist dabei gewiss.
Irgendwann wird tatsächlich der Grenznutzen negativ, wenn immer mehr Menschen auf engstem Raum wohnen.
Dabei wird häufig der Vergleich der Schweiz mit Hongkong gebracht, weil das Land ungefähr so viel Einwohner, wie die einstige britische Kronkolonie, hat.
Alle EU-Bürger in Bern?
Doch die Fläche der Schweiz ist rund 40-mal grösser als bei Hongkong.
Um Verhältnisse wie in Hongkong auch in der Schweiz zu schaffen, müsste die Wohnbevölkerung hierzulande also auf rund 400 Millionen Einwohner anschwellen.
Dies wäre so, als wohnte die ganze EU in der Schweiz.
Zwischen Verhältnissen, wie in Hongkong, ist die Schweiz also meilenweit entfernt – und von 10 bis 400 Millionen Einwohnern wäre es auch ein weiter Weg.
17.11.2024/kut.